Anna Seghers: “Das 7. Kreuz” trifft den Büdinger Herrnhaag , Fr. 3. 6. 2016

Anna Seghers-Lesung: “Das 7. Kreuz” auf dem Herrnhaag bei Büdingen am Freitag, 3. 6.  2016  – 19.30 h

Erich Schaffner liest (Schauspieler / Sänger  aus Mörfelden-Walldorf)

Ernesto Schwarz singt (Liedermacher aus Frankfurt)

Ulrike Eifler liest & berichtet (Geschäftsführerin des DGB-Südosthessen aus Hanau / Marburg)

Hartmut Barth-Engelbart liest & berichtet (Schriftsteller, Historiker, Kabarettist aus Gründau, Org & Regie)

Das besondere an dieser Lesung ist, dass die AkteurINNeN teilweise biografisch sowohl mit dem realen Hintergrund des Romans über die Flucht aus dem KZ-Osthofen als auch mit dem Herrnhaag und der Herrnhuter Brüdergemeine verbunden sind. Mehr dazu bei den einleitenden Worten zur Lesung.

Der hier folgende Text ist nicht Bestandteil der offiziellen Einladung des Vereins Freunde des Herrnhaag.

Die im Text verarbeiteten Informationen wurden im Rahmen von “oral-history”-Forschungen in den umliegenden Dörfern gesammelt, wobei die Interview-Inputs großteils aus dem kurzen geschichtlichen Abriss über den Herrnhaag bei wikipedia und aus Schriften und Vorträgen der regionalen Geschichtsvereine stammten.

Dieses schon etwas ältere Bild aus wikipedia zeigt vor dem unverputzten  Herrnhaag-Haupthaus, der “Lichtenburg”, noch den großen Ziehbrunnen ohne das mittlerweile wieder rekonstruierte Brunnenhaus.

 

Was hat die Sozietät Herrnhaag mit  Anna Seghers, der kommunistischen Schriftstellerin aus jüdischem Elternhaus zu tun ? Was mit dem aufhaltsamen Aufstieg des faschistischen Terrors der NAZIS? Was mit den KZs Guxhagen-Breitenau und Osthofen?  Doch eigentlich nichts! Oder doch?  Die lutherisch-pietistischen Herrnhuter Brüdergemeine hatte als christliche Sammlungsbewegung nach dem 30jährigen Krieg enormen Zulauf von Halt und Lebensperspektive suchenden Spätopfern dieses verHEERenden Krieges ….

Der Herrnhaag ist ein Beispiel für den historischen Versuch der Obrigkeit, Flüchtlinge in vielfacher Weise für herrschaftliche Interessen zu instrumentalisieren: für den profitablen Wiederaufbau der Ökonomie (der Herrschenden), für die Niederhaltung rebellierender, instandbesetzender restlicher Untertanen und ungefügiger Flüchtlinge/Einwanderer in den verwüsteten Dörfern,  …. ein Beispiel für die von der Obrigkeit angefeuerte und gelenkte Fremdenfeindlichkeit, für bewußt geförderte Pogromstimmung bei den Eingeborenen, die bis zu Sprengstoffanschlägen auf die Einrichtungen der Brüdergemeine reichten, Pogromstimmung, die sich sowohl gegen die Herrnhuter, als auch gegen die Inspirierten und die Juden  in der Region richtete, welche die Büdinger Grafen je nach Opportunität mit vielfältigen Privilegien ausstatteten, so lange sie als williger wirtschaftlicher Faktor und als Geldgeber gebraucht wurden. Die Büdinger Grafen erhofften sich vom kaufmännisch versierten Grafen von Zinzendorf und dem wirtschftlich prosperierenden Herrnhaag beträchtliche Geldströme in ihre klammen Schatzhäuser. Nach der Verweigerung des Untertaneneides durch die Brüdergemeine folgte auf den Fuß jener obrigkeitliche Druck, dem sonst nur die “Schutzjuden” und die jüdischen Gemeinden ausgesetzt waren: Ausweisung, kombiniert mit angestachelter Pogrom-Stimmung, die sich an den Privilegien der Fremden und ihren geheimnisvollen Riten entzündete: den Bauern wurden die Wald-, Weide-, Holz- und Fischrechte genommen, die Abgaben erhöht und immer neue erfunden, Hundesteuer, Fenstersteuer … von vielem blieben dabei die Fremden verschont .. das kochte die Wut hoch … “und dann baden die auch noch im Blut aus der Seitenwunde des Gekreuzigten!!” .. “Blutsauger!!”

Dass sie wie die traditionellen Juden keine Obrigkeit außer Gott anerkennen und so der herrschenden Ordnung den Schleier des “Gottgewollten” entziehen, machte die Brüdergemeinen zu einer Gefahr. Hier bestand nämlich die Möglichkeit der Verbrüderung mit dem gemeinen Volk. Es hätten Funken überspringen können. Die Eingeborenen hätten, statt das Herrnhaager Pumpenhaus zu sprengen, von der Haltung wie dem “Know-How” der Herrnhuter lernen und sich so vom Feudaladel zumindest etwas unabhängiger machen können. Ansätze gab es dafür schon bei der Instandbesetzung angeblich Büdingenschen Grundes in den zerstörten Ortschaften Mittel-Gründau, Buchen und Rothenborn. Die überlebenden Bauern um ihren eingewanderten Anführer Karl Meininger und dessen Sippe zogen fast zeitgleich zur Ausweisung der Herrnhuter gegen die Büdinger Grafen, die Prämonstratenser, den Fürstbischof von Mainz und den Deutschherrenorden vor das Wiener Hofgericht und blieben dort, bis ihnen der Hofrat ob ihres lautstarken und wenig untertänigen Auftretens zusicherte, dass sie Recht bekämen und ihre Äcker, Waldungen und Höfe behalten könnten. Die abschließenden Verhandlungen mit dem siegreichen Urteil für die Bauern fanden bis 1765 vor dem Reichskammergericht in Wetzlar statt.  Spätetstens hier muss auch der  junge von den Herrnhutern inspirierte Johann Wolfgang Goethe von den Mittel-Gründauer Bauern gehört haben, deren unerhörte Forderungen gegen die feudale Obrigkeit vom obersten Reichsgericht endlich erhört wurden.  Die Lautstärke ihrs Auftritts in Wetzlar dürfte in der bedomten Kleinstadt einen ebenso nachhal(l)tigen Eindruck hinterlassen haben wie der viele Jahre zuvor im damals über 1000 Kilometer entfernten Wien ..

Siedlung Herrnhaag 1835 mit rund 1000 Einwohnern (die Lesung findet bei sehr gutem Wetter im offenen Brunnenhaus -auf dem zentralen Platz der Sozietäts-Siedlung statt und bei schlechterem Wetter in der “Lichtenburg”, dem Haupthaus des Herrenhaag)

leider nicht mehr im Bild: das Pumpenhaus (rechts unterhalb der Eiche), über das die barocken Gartenanlagen – wenn der Wasserstand im Tiefbrunnen zu weit sank – hauptsächlich bewässert wurden, womit den Lorbacher Bauern das Wasser abgegraben wurde: Felder verdorrten, Weiden ebenfalls, die Almende-Mühle stand still, selbst das Fische-“Wildern” war nicht mehr möglich, wenn die Fische zu wenig Wasser hatten …

“Ab ins Arbeitslager!” Diesen Ruf dürfen sich heute HARTZ4er nicht selten anhören, besonders dann, wenn sie sich gegen die Schikanen der Arbeitsagenturen wehren. Und der pogromatische Ruf wird durch viele Massenmedien gezielt verstärkt – vorne weg durch die BILD-Zeitung ..

Der weitgehend dem Verfall preisgegebene und als “Steinbruch” genutzte Herrnhaag wurde zum  Arbeitslager gemacht,  schon als die SPD-Reichsregierung Müller mit Notverordnungen den “freiwilligen” Arbeitsdienst  Ende der 1920er Jahre einführte. Wer sich dem nicht anschloss, bekam das dann beim “Stempelngehen” beim Arbeitsamt zu spüren …

ab 1933 wurde der Herrenhaag erst Reichsarbeitsdienstlager und dann Gefangenenlager  und später Kriegsgefangenenlager … ob von hier aus auch die “politischen” zur Zwangsarbeit eingesetzt , ob hier ausländische Zwangsarbeiter untergebracht wurden, muss noch recherchiert werden.

Gesichert ist, dass Reichsgauleiter Sprenger hier ab 1933 seine Grabungstrupps zwangsrekrutierte, mit denen er den Glauberg weiter durchpflügen ließ, um aus ihm eine Nazi-Pilgerstätte zu machen. Bei der Fortsetzung der Grabungsarbeiten des “freiwilligen” Arbeitsdienstes durch den RAD wurden in der Gier nach “arischem Erbe” erhebliche Schäden angerichtet…

Der hier nachlesbare Herrnhaag-Eintrag bei wikipedia  https://de.wikipedia.org/wiki/Herrnhaag   enthält leider kaum eine Information über die Arbeit der Jugendwerkstatt Herrnhaag und noch weniger über die in den letzten Jahrzehnten von der Herrnhuter Sozietät Herrnhaag und dem Verein Freunde des Herrnhaag und ungezählten anderen ehrenamtlichen HelferINNEn geleisteten Wiederaufbau- und Restaurierungsarbeiten.

Zu recherchieren wäre noch, was den jungen Goethe an den Herrnhutern so faszinierte, dass er an einer Herrnhuter Synode im benachbarten Kloster Marienborn teilgenommen hat.

Aktuell faszinierend ist die Arbeit der Jugendwerkstatt auf dem Herrnhaag, die es damals so wohl noch nicht gegeben haben dürfte. Aber vielleicht waren es ja die urchristlichen  -fast schon frühsozialistisch anmutenden-  Elemente in der Arbeits- und Lebensorganisation der Herrnhuter Brüder- & Schwesterngemeine, in der alle Standesunterschiede aufgehoben waren? Eine christliche Commune?

 

 

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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