Aleppo & Mossul: Doppelmoral & Propaganda in der Kriegsberichterstattung

Kriegsberichte: Doppelmoral und Propaganda
Joachim Guilliard / 14. Feb 2018 – Ein Vergleich der Berichte westlicher Medien über die Kämpfe um die syrische Stadt Aleppo und die irakische Stadt Mossul.

upg. Auf die ungleich gewichteten Informationen grosser Medien über die Zerstörung von Aleppo und diejenige von Mossul haben wir schon hingewiesen. Joachim Guilliard, Mitglied der Friedensbewegung, ist Spezialist des Nahen und Mittleren Ostens. Er hat den Umgang von Politik und Medien mit den Kämpfen um Aleppo und Mossul genauer analysiert. Im Fokus stehen Medien in Deutschland, doch in der Schweiz wurde ähnlich einseitig informiert.

(Wer den Artikel  mit allen Illustrationen und Links lesen will, kann dies bei INFOsperber: https://www.infosperber.ch/Artikel/Medien/Aleppo-Mossul-Kriegsberichte-Doppelmoral-und-Propaganda )

Der Krieg und die Medien

Die brutale Zerstörungen der Grossstädte Aleppo und Mossul offenbaren eine extreme Doppelmoral in der Berichterstattung. Diese richtete sich weit mehr an strategischen Interessen derer aus, die Assad stürzen möchten, als am tatsächlichen Kriegsgeschehen.

Die Ausgangslage war in den beiden grossen Metropolen ähnlich. Sowohl Ostaleppo als auch Mossul standen unter Kontrolle islamistischer Kräfte. Beide Städte wurden von Regierungstruppen mit ausländischer Unterstützung belagert, bombardiert und schliesslich gestürmt.

Die Darstellung von Politik und Medien hätte jedoch unterschiedlicher kaum sein können.

Die Schlacht um Mossul, wo sich nach Schätzung westlicher Geheimdienste 7’000 bis 10’000 Dschihadisten des «Islamischen Staates» (IS) unter rund eineinhalb Millionen Einwohnern verschanzt hatten, wurde durchgehend begrüsst.

«Grausames Inferno» in Aleppo

Dagegen wurde die Offensive zur Befreiung Ostaleppos aus den Händen von rund 8’000 islamistischen Kämpfern als grausamer und verbrecherischer Angriff auf die «Opposition», die «Rebellen» oder gar die Bevölkerung der Stadt verurteilt. Die Identität dieser «Opposition» wie auch ihr tatsächliches Verhältnis zur Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt noch 150’000 bis 200’000 Menschen zählte, blendete man dabei aus.

Man liess den Eindruck entstehen, es handle sich um fortschrittliche Kräfte und um Stadtviertel, die von der Mehrheit der Einwohner als «befreit» angesehen würden.

Der Hintergrund für die Verdrehung der Fakten war die enorme strategische Bedeutung, die der Kampf um Aleppo hatte. Wäre es den Islamisten tatsächlich gelungen, die gesamte Metropole unter ihre Kontrolle zu bringen, hätte die Regime-Change-Allianz gute Voraussetzungen gehabt, den Krieg gegen die Assad-Regierung zu intensivieren. Aleppo und das umgebende Gebiet bis zur türkischen Grenze wären auch eine ausreichend grosse und wichtige «befreite Zone» gewesen, um als Basis für eine ernstzunehmende Gegenregierung zu fungieren.

Die Niederlage der dortigen Milizen hingegen bedeutete faktisch das Ende dieses Projektes und damit auch eine empfindliche Niederlage der Nato-Staaten und ihrer Verbündeten. Mit Beginn der Offensive im September 2016 hatte die Berichterstattung im Westen nahezu einhellig nur noch den einen Tenor: Die Regierungstruppen und die russische Luftwaffe lassen die Stadt in einem Inferno untergehen.

«Sie bomben Syrien zurück in die Steinzeit

Die Schlagzeilen zum Sturm auf Mossul lauteten etwa: «Die Offensive kommt schnell voran», «Die Befreiung steht bevor» oder «Im Nordirak feiern die Menschen: Der IS wird zurückgedrängt», so titelte man über die syrische Offensive beispielsweise «Blut im grauen Staub Aleppos» (Süddeutsche Zeitung, 26. September 2016), «Aussenminister Steinmeier: ‹Die Bilder aus Aleppo sind an Grausamkeit kaum zu überbieten›» (Spiegel online, 9. August 2016) oder «Grünen-Chef Özdemir: ‹Assad und Putin bomben Syrien zurück in die Steinzeit›» (Spiegel online, 15. Oktober 2016).

Die damalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Samantha Power, verglich das Geschehen in Ostaleppo gar mit Ruanda und Srebrenica und übernahm dabei fast eins zu eins die Propaganda der Dschihadistentruppe Ahrar Al-Scham.¹ Oft wurde nicht einmal erwähnt, dass sich die Offensive nur auf den Ostteil der zweitgrössten Stadt Syriens konzentrierte, in dem noch 15 Prozent der Einwohner lebten. Es wurde zuweilen der Eindruck erweckt, ganz Aleppo stehe vor dem Untergang.

«Islamisten als letzte Hoffnung»

Dabei war es kein Geheimnis, dass die heroisierten Verteidiger überwiegend aus islamistischen und dschihadistischen Milizen bestanden, unter denen der syrische Al-Qaida-Ableger, die in Dschabha Fatah Al-Scham umbenannte Nusra-Front, und Ahrar Al-Scham die dominierenden Kräfte waren.

Gruppen also, die dem IS in bezug auf reaktionäre islamistische Ideologie und Brutalität nicht viel nachstehen.

Westliche Medien scheuten sich jedoch ungeachtet dieses allgemein bekannten Hintergrunds nicht, sich offen hinter diese Kräfte zu stellen. So räumte Spiegel online am 2. August 2016 in einem Beitrag zwar ein, dass die schlagkräftigsten Milizen «für einen syrischen Staat kämpfen, in dem ihre fundamentalistische Auslegung des islamischen Rechts, der Scharia», gelten solle, bezeichnete sie aber dennoch als «Aleppos letzte Hoffnung».

Im Unterschied zu hiesigen Medien fühlten sich wohl nur wenige der betroffenen Bewohnern Aleppos von den Islamisten und Dschihadisten befreit. Die Enklave war auch keineswegs infolge eines Aufstands in der Stadt selbst entstanden. In Aleppo hatte es 2011 keine nennenswerten Proteste gegen die Regierung gegeben. Die Metropole galt als Hochburg der Regierungsanhänger und blieb über ein Jahr lang von Unruhen verschont.

Zum Verhängnis wurde ihr die Nähe zur Türkei. In der Grenzregion formierten sich die islamistischen Milizen und eroberten von dort aus den Osten der Stadt. Der Grossteil der Bevölkerung flüchtete, die Mehrheit davon in Viertel im Westteil, die von der syrischen Armee gehalten wurden.

Allen Berichten von Betroffenen zufolge, die nicht mit den Islamisten sympathisieren, errichteten die Milizen ein islamistisches Terrorregime inklusive Schleierzwang und Scharia-Gerichten. Sie nutzten Ostaleppo als Basis, um auch unter Einsatz von Autobomben und Selbstmordkommandos in die benachbarten Viertel vorzustossen. Die Mehrheit der Bewohner betrachtete daher die Vertreibung der Terroristen durchaus als Befreiung.

Die romantisierende Darstellung der Medien, die Dschihadisten seien «Verteidiger der Freiheit», führte dazu, dass Quellen aus ihrem Umkreis im Westen als enorm glaubwürdig darstellt wurden. Dies nicht nur von den Medien, sondern auch von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW). Beide führten umfangreiche Kampagnen zur Delegitimierung der Assad-Regierung durch, die fast vollständig auf den Informationen oppositioneller Gruppen beruhten.

Dies führte etwa dazu, dass HRW mehrfach Bilder zerstörter Gebäude und Strassenzüge zeigte, welche die Auswirkungen von Fassbombenabwürfen demonstrieren sollten, die jedoch an anderen Orten, etwa im kurdischen Kobani oder gar in Gaza, aufgenommen worden waren (siehe «Junge Welt»-Thema vom 26.1.2016). Egal, ob es sich um Berichte über angebliche Fassbombenabwürfe, Angriffe auf Krankenhäuser oder ähnliche Vorwürfe handelte, primäre Quellen waren in den meisten Fällen ausschliesslich oppositionelle Gruppen wie das «Aleppo Media Center», die mehr oder weniger eng mit den Milizen verbandelt waren. Unabhängige Journalisten hingegen konnten kaum in die von Regierungsgegnern kontrollierten Gebiete vordringen. Das machte die Berichterstattung nicht transparent.

Professionelle PR-Arbeit

Es wäre allerdings blauäugig anzunehmen, dass die professionelle und erfolgreiche PR-Arbeit allein das Werk der Milizen und verbündeter «zivilgesellschaftlicher Gruppen» war. Arabische und westliche Regierungen haben von Beginn an ziemlich offen eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung und Ausbildung regierungsfeindlicher Medieninitiativen gespielt. Was als spontane Gründung eines unabhängigen Medienbüros durch lokale Aktivisten wirkte, hatten häufig syrische Oppositionsgruppen im Exil und westliche Nichtregierungsorganisationen in enger Zusammenarbeit mit westlichen Regierungsstellen aufgebaut.

So wurde etwa das Radioprojekt Syria Radio Network (Syrnet) von der Berliner Organisation «Media in Cooperation and Transition» (MICT) mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes entwickelt – mitfinanziert unter anderem vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, dem belgischen und französischen Aussenministerium und der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung.²

Im Fall Aleppos wurde hauptsächlich durch extreme Einseitigkeit und durch Weglassen wesentlicher Aspekte Stimmung gegen das Vorgehen der syrischen und russischen Streitkräfte gemacht. Dies begann schon mit dem grossen Raum, den die Medien der Offensive – im Verhältnis zu sonstigen Kriegsereignissen in der Welt – von den Medien einräumten. Dies wurde noch dadurch verstärkt, dass die Zerstörungen mit Hilfe der Berichte, Bilder und Videos oppositioneller Gruppen aufgebauscht wurden.

Dagegen blieben Angriffe der «Rebellen» auf den Westen Aleppos unerwähnt, oft sogar die Präsenz bewaffneter Milizen generell. Auf diese Weise entstand zwangsläufig der Eindruck, die Angriffe der Regierungstruppen und ihrer russischen Verbündeten würden sich vorwiegend auf zivile Ziele richten. Nahezu alle Opfer und Kriegsschäden wurden Syrien und Russland angelastet, so als würden diese allein Waffen einsetzen.

Emotionalisierung hätte verdächtig machen sollen

Manche von der «Opposition» verbreiteten Berichte konnten direkt als Fälschung oder Irreführung entlarvt werden. Wenn man die mediale Berichterstattung zu Aleppo überfliegt, so wird offenbar, dass ein wesentlicher Teil rein auf Emotionalisierung zielte anstatt Fakten aufzuzeigen.

Als besonders geeignet hierfür erwiesen sich Geschichten mit Kindern. So machte im Dezember 2016 das Bild eines kleines Mädchens in den «sozialen Medien» die Runde, das in den Ruinen von Aleppo zwischen Leichen herumirrte. Das scheinbar aktuelle Foto war jedoch bereits 2014 im Libanon entstanden und stammt aus einem inszenierten Videoclip der libanesischen Sängerin Hiba Tawadschi über den «arabischen Frühling».

Ein ähnlich lehrreiches Beispiel ist die Geschichte um das rührende Bild von Omran, dem «Jungen von Aleppo». Es wurde im August 2016 geradezu zur Ikone der Schlacht um die Stadt. Es gab kaum eine Zeitung, die das Bild nicht veröffentlichte. Omran sei, so der Fotograf, durch einen syrischen oder russischen Luftangriff verletzt und von den «Weisshelmen» aus den Trümmern geborgen worden.

Der Vater des Jungen, Mohammed Daknisch, bestritt die Geschichte allerdings umgehend: Sein Sohn sei nur leichtverletzt gewesen und dies keineswegs durch einen Luftangriff. Er beschuldigte die «Weisshelme» und die internationalen Medien, seinen Sohn für Propagandazwecke missbraucht zu haben. Über einen interessanten Aspekt dieser Geschichte wurde auch später kaum berichtet: Der Fotograf Mahmud Raslan hatte kurz vor diesem Foto ein «Selfie» gepostet, das ihn grinsend mit Angehörigen der berüchtigten Dschihadistenmiliz Harka Nur Al-Din Al-Senki zeigte. Raslan arbeitete im «Aleppo Media Center» (AMC), das zu den wichtigstes Informationsquellen der westlichen Medien zählte.

Im Westen wurde das AMC als «unabhängiges Netzwerk» sogenannter Bürgerjournalisten dargestellt – es steht jedoch fest im Lager der Regimegegner und ist eng vernetzt mit den Dschihadisten. Gegründet wurde es mit Hilfe der «Syrian Expatriates Organisation» (SEO), die ihren Sitz in Washington hat und wohl auch erhebliche Summen von US-amerikanischen Regierungsstellen erhält.³

Die viel zitierten «Weisshelme»

Noch besser ausgestattet und wesentlich prominenter als das AMC ist die bereits genannte zweite Organisation, die bei der Inszenierung von Omran als Bombenopfer mitwirkte: die «Weisshelme». Auch sie versorgten die Medien fleissig mit Berichten und mit Bildmaterial aus den Kampfgebieten.

Entgegen ihrer Selbstdarstellung handelt es sich bei den «Weisshelmen» jedoch nicht um eine originär syrische Organisation. Sie wurde von einem ehemaligen britischen Offizier gegründet und hat ihren Hauptsitz in Grossbritannien. Die Finanzmittel kamen zunächst aus den Golfstaaten, anschliessend überwiegend aus Washington und London – jeweils mehr als 30 Millionen US-Dollar.⁴ Auch das Auswärtige Amt der BRD hatte Ende 2016 zwölf Millionen Euro überwiesen.⁵ Während die etablierten Hilfsorganisationen mit sinkender staatlicher Unterstützung zu kämpfen haben, hat diese seltsame Zivilschutztruppe in den letzten vier Jahren insgesamt schon weit über 100 Millionen Euro erhalten.

Die «Weisshelme» helfen auch Verletzten. Nach eigenen Angaben haben sie bereits Zehntausenden das Leben gerettet. Bis Ende 2017 sollen es nach eigenen Angaben 99’200 gewesen sein. Überprüfbar ist diese Zahl nicht. Klar ist aber, dass sie nur in Gebieten aktiv sind, die unter Kontrolle regierungsfeindlicher Milizen stehen.

Doch selbst dort fühlen sie sich offensichtlich nicht für die gesamte Bevölkerung zuständig. Bassam Hajak, der Arzt, der im Ärzteverband von Aleppo für die Versorgung der Flüchtlinge verantwortlich war, die über die humanitären Korridore der syrischen Armee in den Westteil gelangten, berichtete, dass weder seine in Ostaleppo verbliebene Familie noch sonst jemand, mit dem er gesprochen habe, etwas von den «Weisshelmen» mitbekommen habe.⁶ Der schwedische Konfliktforscher Jan Oberg fand unmittelbar nach der Befreiung vor Ort ebenfalls keine Spur von ihnen. Sie kümmerten sich nicht um die Versorgung derer, die auch nach Ende der Kämpfe dringend auf Hilfe angewiesen waren. Stattdessen hatten sie sich zusammen mit den regierungsfeindlichen Kämpfern evakuieren lassen.⁷

Gut vertraut sind die geisterhaften Zivilschützer hingegen mit den dschihadistischen Gruppen vor Ort, mit denen sie auch personell eng verflochten sind. Auf zahlreichen Bildern und Videos sind sie mit Al-Nusra-Fahnen zu sehen, wie sie zusammen mit islamistischen Kämpfern Erfolge feiern oder über erschossenen Soldaten posieren.⁸ Zudem kann man einige ihrer Aktivisten, die in Videos beim Einsatz in ihren weissen Uniformen zu sehen sind, auf anderen Fotos auch als bewaffnete Kämpfer erkennen.⁹

All dies schadete jedoch ihrem Ansehen im Westen bisher wenig. So erhielten sie trotz allem den Alternativen Nobelpreis, und eine Kurzdoku über sie wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. Im Dezember 2016 überreichte der damalige deutsche Aussenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ihrem Chef Raed Al-Saleh den «Deutsch-französischen Preis für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit».

Auch islamistische Milizen für viele Schäden verantwortlich

Wenn man die gesicherten Erkenntnisse über das Kriegsgeschehen in Aleppo betrachtet, so war die Offensive auf den Ostteil der Stadt mit Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Strassenkämpfen für die verbliebene Bevölkerung zweifellos ein Horror, bei dem grosse Verwüstungen angerichtet und Tausende getötet wurden.

Das trifft aber auch auf die pausenlosen Raketen- und Mörserangriffe der «Rebellen» auf den Westteil der Stadt zu. Nach Einschätzung der Unesco waren nach Ende der vier Jahre andauernden Kämpfe 60 Prozent der Altstadt, durch welche die Front verlief, schwer beschädigt und bis zu 30 Prozent völlig zerstört.¹⁰

Es ist jedoch bewusste Irreführung, wenn dafür ausschliesslich die syrischen und russischen Streitkräfte verantwortlich gemacht werden. So wurde bei den vielen anklagenden Bildern über die Zerstörungen völlig verschwiegen, dass ein erheblicher Teil der Schäden bereits im Sommer 2012 beim Eindringen der islamistischen Milizen verursacht worden war. Teile der Altstadt waren damals bereits durch Feuer verwüstet und der berühmte Souk, das weltgrösste überdachte Marktviertel, von den Islamisten geplündert und gebrandschatzt worden.¹¹

Die meisten neueren Schäden waren den Beobachtungen Jan Obergs zufolge während der Strassenkämpfe entstanden. Er schätzt, dass – entgegen dem durch die Medien vermittelten Eindruck – höchstens zehn Prozent der Zerstörungen auf das Konto von Luftangriffen gingen.

Noch viel mehr Verwüstungen in Mossul

Der Westteil von Mossul ist zu 90 Prozent zerstört, berichtet ein Reporterteam des ZDF: «Mossul nach der IS-Herrschaft»

Noch stärker zerstört wurde das irakische Mossul. Hier wurden beim Sturm der Stadt bis zu 80 Prozent zerstört¹² , nach Angaben eines ZDF-Teams von Anfang 2018 im Westteil der Stadt sogar 90 Prozent. Nach Einschätzung der Uno stellt das Ausmass der Schäden jedenfalls alle bisherigen Kriegsschäden im Irak in den Schatten.

Von den 54 Wohndistrikten Westmossuls wurden 15 völlig dem Erdboden gleichgemacht und dabei fast 32’000 Häuser komplett zerstört. In den 23 mittelschwer und 16 leicht beschädigten Distrikten kommen weitere 16’000 vollständig zerstörte Gebäude hinzu. Insgesamt wurden dadurch vermutlich Wohnungen für weit mehr als eine halbe Million Menschen zertrümmert.¹³

Den Weg freigebombt

Ein grosser Teil der Zerstörungen dürfte Berichten zufolge auf den Artilleriebeschuss durch die irakischen Truppen zurückzuführen sein. Ein weiterer geht auch hier – wie in Aleppo – auf das Konto der Dschihadisten. Ein erheblicher Teil der betroffenen Gebäude war aber, wie Aufnahmen zeigen, eindeutig durch Bombardierungen aus der Luft zerstört worden. Die US-geführte Allianz aus Nato-Staaten, Australien, Jordanien und Marokko hatte den Bodentruppen in den letzten Wochen den Weg Meter für Meter regelrecht freigebombt – ohne Rücksicht auf Hunderttausende Bewohner, die dort eingeschlossen waren.

Insgesamt floh im Laufe des fast neun Monate dauernden Angriffs mehr als eine Million Menschen aus der Stadt. Die Zahl der Opfer ist nur schwer zu schätzen. Irakisch-kurdische Geheimdienste gehen von mindestens 40’000 toten Zivilisten aus. Einer Untersuchung der UN-Menschenrechtskommission zufolge wurde mindestens jeder vierte Zivilist, der bei den Kämpfen starb, durch Luftangriffe der US-geführten Koalition getötet.¹⁴

Kein Mitgefühl für zivile Opfer in Mossul

Betrachtet man die Berichterstattung zu Mossul, so fällt hier das völlige Fehlen von Mitgefühl für die Eingeschlossenen auf, deren Zahl meist recht niedrig angesetzt oder verschwiegen wurde. Aus Mossul kamen so gut wie keine Aufnahmen und Berichte über die Verwüstungen durch die Bombardierung, keine Leidensgeschichte Betroffener und keine Bilder von toten oder verwundeten Kindern.

Die westlichen Medien zeigten hauptsächlich feiernde Soldaten und schiitische oder kurdische Milizionäre. Kaum Erwähnung fanden die Konflikte mit der sunnitischen Bevölkerung. Erst vor ihrem Hintergrund und der aus ihnen resultierenden Abneigung gegen die Schiiten und Kurden war es den Islamisten überhaupt möglich gewesen, sich in der Grossstadt und anderen Gebieten festzusetzen. Absolut unkritisch wurde die Schlacht um Mossul als Kampf einer demokratisch gewählten Regierung gegen den IS dargestellt.

Es war keine Rede davon, dass dieser Kampf von schiitischen Kräften, welche die irakische Regierung dominieren und das Gros der Truppen stellten, durchaus als ein Kampf gegen die unbotmässigen Sunniten geführt wurde. Weitgehend ignoriert wurden auch die im Windschatten der Rückeroberung durchgeführten Vertreibungen von Sunniten aus ethnisch und konfessionell gemischten Gebieten.

Realität auf den Kopf gestellt

Vergleicht man die Kämpfe um Aleppo und Mossul, so stellt man fest, dass bei der unterschiedlichen Beurteilung der Kriegführung die tatsächlichen Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt wurden. Auch wenn die syrischen und russischen Streitkräfte sicherlich nicht besonders zurückhaltend waren und viele Vorwürfe über Zerstörungen ziviler Einrichtungen der Realität entsprechen, gingen sie, wie das Ausmass der Verwüstungen zeigt, im Vergleich zur US-geführten Allianz und ihren irakischen Bodentruppen rücksichtsvoller vor.

Bei der Rückeroberung syrischer Städte bemühten sich die syrischen und russischen Streitkräfte, Entscheidungsschlachten in urbanen Zentren zu vermeiden. Kämpfern, die bereit waren, ihre Waffen abzugeben, boten sie Straffreiheit an. Denjenigen, die es nicht waren, wurde freies Geleit offeriert. In Aleppo erlaubte Damaskus Tausenden Dschihadisten, unbehelligt mit ihren leichten Waffen und ihren Familien aus den umkämpften Stadtvierteln abzuziehen. Im Irak hingegen, namentlich in Mossul, gab es keinerlei Anstrengungen, die verheerenden Endkämpfe durch Verhandlungen zu vermeiden.

In Aleppo kam es bei und nach der Übernahme der Kontrolle zu keinen grösseren Racheaktionen von Seiten der Regierungskräfte. Insgesamt wurden 85 Regierungsgegner ermordet – jedoch nicht von der Armee, sondern von Angehörigen zweier Milizen. Die Vorfälle wurden gerichtlich verfolgt.

Im Irak hingegen folgten der Rückeroberung jeder Stadt Racheaktionen an der verbliebenen Bevölkerung. Die Täter waren dort in erster Linie die berüchtigten schiitischen Milizen. Vorwürfe von Einheimischen und Menschenrechtsorganisationen richten sich jedoch auch gegen reguläre irakische Einheiten und kurdische Kämpfer. In vielen konfessionell gemischten Gebieten nahmen Verschleppungen und Exekutionen von Sunniten oft den Charakter ethnischer Säuberungen an – und dies bei vollständiger Straflosigkeit.

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Dieser Artikel erschien am 22. Januar 2018 in der Tageszeitung «Junge Welt».
Zum Blog des Autors Joachim Guilliard.

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FUSSNOTEN:

1 Thomas Pany: Aleppo: Das neue »Srebrenica«? Telepolis, 15.12.2016, kurzlink.de/Pany_Aleppo

2 Vgl. www.mict-international.org; Radio für Syrien – der Kasten, der in den Krieg sendet, Süddeutsche Zeitung, 21.10.2015

3 Tim Anderson: The Omran Deception, Telesur, 31.8.2016, kurzlink.de/Anderson_Omran

4 USAID: Supporting Syrians Who Are Struggling for a Future Syria Based on Democratic Governance and Respect for Human Rights, 12.6.2017, kurzlink.de/US-Aid_Syrien

5 Auswärtiges Amt: Factsheet – Hilfe für Syrien (Stand 2016), kurzlink.de/AA-Factsheet-Syrien

6 Vanessa Beeley: The Real Syria Civil Defence Exposes Fake »White Helmets« as Terrorist-Linked Imposters, 21st Century Wire, 23.9.2016, kurzlink.de/Beeley_Weisshelme

7 Jan Oberg: The Destruction of Eastern Aleppo, Syria, 25.12.2016, kurzlink.de/Oberg_Aleppo

8 Vgl. Marcello Ferrada de Noli: Should UN Consider White Helmets a Politically Neutral Organization, and Its Allegations as Credible Sources by UN Investigative Panels on Syria? The Indicter, 30.11.2017, kurzlink.de/Noli_Weisshelme; Vanessa Beeley: White Helmets: Hand in Hand with Al Qaeda and Extremist Child Beheaders in Aleppo, 21st Century Wire, 12.3.2017, kurzlink.de/Beeley_Weisshelme_2

9 Double Life of White Helmets: Volunteers by Day, Terrorists by Night (Photos), South Front, 29.09.2016, kurzlink.de/Doppelleben

10 UNESCO: 30 Percent of Aleppo’s Ancient City Destroyed, AP, 20.1.2017

11 Souk Burns as Aleppo Fight Rages, The Irish Times, 29.9.2012; Historische Stadt in Gefahr, Süddeutsche Zeitung, 1.10.2012

12 Samuel Oakford: Mosul’s Capture Sees ISIS Vanquished – But at a Terrible Cost, Airwars, 1.7.2017, kurzlink.de/Oakford_Mossul

13 Iraq Faces Vast Challenges in Securing, Rebuilding Mosul, AFP, 3.8.2017

14 Vgl. hierzu auch Joachim Guilliard: Befreiung um jeden Preis – der Irak nach der verheerenden Schlacht um Mossul, Ossietzky 15/2017; ders.: Mossul in Ruinen – Konflikte verschärft, Ossietzky 18/2017

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INFOSPERBER HATTE ÜBER DIE EINSEITIGE INFORMATION MEHRMALS BERICHTET:

«Die SRF-Tagesschau und das Drama in Mossul», Infosperber, 11.4.2017
«750’000 Einwohner in Mossul beschossen – Medien schweigen», Infosperber, 1.3.2017
«Mossul: Das entlarvende Schweigen der Medien», Infosperber, 20.12.2016
«Aleppo – und worüber die Medien schweigen», Infosperber, 18.12.2016
«Syrien, Aleppo. Irak, Mossul. Fragen über Fragen» (1), Infosperber, 2.11.2016
«Aleppo und Mossul: Fragen über Fragen» (2), Infosperber, 29.11.2016

Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Joachim Guilliard, Jahrgang 1958, hat Physik studiert, arbeitet hauptberuflich als IT-Berater und ist in der Friedensbewegung aktiv. Er befasst sich seit langem mit dem Nahen und Mittleren Osten, schwerpunktmässig mit dem Irak und ist Verfasser zahlreicher Fachartikel sowie Mitherausgeber bzw. -autor mehrerer Bücher über die von Kriegen betroffenen Länder der Region.

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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