corona 172: GEW-Südhessen gegen Livestream-Zwang in den Schulen

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Liebe GEW-Kolleginnen und Kollegen im Bezirksverband Südhessen,

im Zuge der Corona-Maßnahmen sollen Lehrkräfte dazu gezwungen werden ihren Unterricht abfilmen zu lassen. Die Livestreams sollen Schüler*innen zu Hause verfolgen können. Aus unserer Sicht ist das unzulässig. Die GEW Südhessen hat dazu ein Rechtsgutachten erstellen lassen. Mit diesem Schreiben möchten wir Euch über die Hintergründe informieren. Auf die rechtlichen Details haben wir aus Platzgründen verzichtet. Der vollständige Text mit allen rechtlichen Hinweisen kann als pdf-Datei hier heruntergeladen werden. Personalräte finden dort Hinweise für eine rechtliche Argumentation. Wer Beratung und Rechtsschutz in dieser Angelegenheit sucht, kann sich gern an uns unter info@gew-suedhessen.de wenden.

Wir wünschen Euch alles Gute!
Christine Dietz, Michael Köditz, Dr. Manon Tuckfeld
Vorsitzendenteam des Bezirksverbands der GEW Südhessen
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Digital 1-2-3- aufgepasst:
Zur rechtlichen (Un-) Zulässigkeit des Live-Streamings von Lehrer*innen


Kosteneffizient, wirkungslos, Persönlichkeitsrechte missachtend
Die GEW sichert Kolleg*innen Rechtsschutz zu! Bei Bedarf bitte melden.
Es ist nicht nur eine völlig abwegige pädagogische Idee anzunehmen, Unterricht könne dadurch ersetzt werden, dass eine Kamera auf das Gesicht der Lehrkraft gerichtet werde und die dem Stream aufmerksam folgende Schüler*in könne sodann über die verzerrten Übertragungen und die Wortfetzen einen Bildungserfolg verbuchen. Es ist auch eine völlig abwegige Idee zu glauben, dass diese Vorstellung vor dem Hintergrund der technischen Ausstattung von Schule überhaupt möglich ist.
Aber wem schaden diese abwegigen Vorstellungen?
Sie schaden:
·      den Lehrerkolleg*innen – denn sie werden damit konfrontiert, dieses Streaming umsetzen zu sollen.
·      den Schulleitungen, die ihre Kolleg*innen anweisen sollen, dies umzusetzen.
·      den Schüler*innen, denen weisgemacht wird, dass das Unterricht sei und
·      den Eltern, die sich in Sicherheit dahingehend wähnen sollen, dass alles für ihr Kind getan werde.

Die Geister die ich rief…
Ausgelöst wurde das Ganze mit dem Schreiben vom 23.07.2020 und durch die Verfügung  vom 20.08.2020, in der vollmundig der digitale Durchgriff verordnet wird. Damit einhergehend wird die Bildungsoption für Schüler*innen, die zur Risikogruppe gehören, zum Nulltarif propagiert. Möglich soll dies über die Nutzung des Direktionsrechts sein, das eine völlige Überdehnung im Hinblick auf seine Reichweite und Durchgriffskraft erfährt. Beamt*innen, so die Annahme, geben gleichsam mit Erhalt ihres Beamtenstatus‘ ihre Persönlichkeits- und Grundrechte ab: das Recht am eigenen Wort und Bild, die informationelle Selbstbestimmung, die eigenen biometrischen Daten, die Datenschutzgrundverordnung. Alles weicht, so jedenfalls die Position des HKM, dem dienstrechtlichen Durchgriff.
Ausgangspunkt der Überlegungen des Ministeriums ist, ein Unterrichtsangebot für Schüler*innen, die einer Risikogruppe angehören, zur Verfügung zu stellen. Für das Ministerium ist der Einsatz des Livestreaming via Videokonferenzsysteme quasi eine alternativlose Möglichkeit. So wurde es wohl dem hessischen Datenschutzbeauftragten geschildert, der daraufhin eine Generalfreigabe für alles erteilte, was technisch möglich ist. 
Die Möglichkeit, Unterricht auch jenseits des Livestreams zu realisieren, wird zwar in der oben genannten Verfügung noch erwähnt, aber nicht mit Entlastungsstunden hinlegt. Die Lehrkraft „darf“ damit auch auf eigene Kosten Hausbesuche bei den Schüler*innen oder andere alternative (nicht vergütete) Unterrichtsmodelle entwickeln. Aber wer will das schon zum Nulltarif. Überhaupt: dass Bildung Geld kostet – und zwar gerade in Corona-Zeiten – wird nicht nur nicht gedacht, sondern auch nicht gewünscht.

Gegenwehr tut not!
Die Frage ist eine echte Grundsatzfrage: ist das Direktionsrecht so durchgreifend, dass es selbst Grundrechte zur Seite schiebt? Wenn dem so wäre, könnten wir ab sofort bei jeder Vorgabe unseres Dienstherrn nur noch strammstehen. Reicht die vermeintlich dienstliche Erforderlichkeit, damit ein Datenschutzbeauftragter sich seines eigenen Auftrages entledigen kann und aufhört, die Daten zu schützen, sondern eine generelle Freigabe für alles erteilt, was digital möglich ist? Dann können wir auch auf diese Referenz verzichten. Schützt doch dieser Datenschützer dann eher den Dienstherrn als die Daten der Kolleginnen und Kollegen.
Ganz grundsätzlich…
Und da die Frage eine echte Grundsatzfrage ist, wird die GEW nicht nur auf die Einsicht der Schulleiter*innen hoffen, denen zum Teil – wie kolportiert wird –, diese Rechtsauffassung der Durchgriffsmöglichkeiten des Direktionsrechts auch nicht ganz geheuer ist, sondern selbst das Referenz- und Verweissystem von Ministerium <–> Datenschutzbeauftragten <–> Schulleitung aufzubrechen versuchen.
In diesem Zusammenspiel schiebt nämlich der eine alles auf den anderen. Das Ministerium beruft sich auf den Datenschutzbeauftragten, der alles freigegeben hat. Der Datenschutzbeauftragte beruft sich auf das Ministerium, das von der Not berichtet, Unterricht nicht anderes umsetzen zu können. Und willige Schulleitungen berufen sich auf das ihnen übertragende Recht, Unterricht im Livestream per Direktionsrecht anweisen zu können.

GEW Südhessen lässt Rechtsgutachten erstellen
Diesem Verantwortungsverschiebebahnhof zum Trotz hat die GEW Südhessen geprüft, inwieweit kollektivrechtliche (also: über die Personalräte auf allen Ebenen), individualrechtliche und dienstrechtliche Abwehrmöglichkeiten gegeben sind.
In dem von der GEW BV Südhessen beauftragten Gutachten der Rechtsanwälte Peter Hense, Franziska Weber und Dr. Diana Ettig vom Oktober 2020 sind bemerkenswerte Statements zu lesen, die die GEW darin bestärken, diesen Angriff auf die Persönlichkeitsrechte von Lehrkräften zurückweisen zu können.
Auch Schüler*innen, die zur Risikogruppe gehören, haben einen Anspruch darauf, gut unterrichtet zu werden. Zu den Rechten der Schüler*innen würde im Übrigen auch gehören, ihnen nicht nur die pseudo-freiwilligen Einwilligungserklärungsvordrucke vorzulegen, sondern eine echte Alternative von Unterricht anzubieten. Alles andere ist nicht mehr als eine Erklärung unter Druck (und damit datenschutzrechtlich belanglos). Eine Alternativlosigkeit, die sie ins datenverarbeitende System zwingt. Denn sonst hätten sie ja gar keinen Unterricht.

Guter Unterricht ist individuell und persönlich und eine gemeinsame Arbeit mit den Schüler*innen. Guter Unterricht ist kein Livestream. Guter Unterricht kostet Zeit und Geld.

Dr. Manon Tuckfeld, Bezirksvorsitzendenteam

Autor: Hartmut Barth-Engelbart

Autor von barth-engelbart.de

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